30. April 2019

Unterstützte Kommunikation: Neue Wege im Alltag

Die Fähigkeit zur Kommunikation ist eine entscheidende Voraussetzung für Teilhabe und Selbstbestimmung. Das Projekt „Unterstützte Kommunikation“ (UK) der Habila Markgröningen trägt dazu bei, dass dies auch Menschen ermöglicht wird, die in ihren Fähigkeiten zu verbaler Verständigung erheblich eingeschränkt sind oder ganz fehlen.

Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Kontakt und Kommunikation. Dies gilt auch für Herrn M., der bei der Habila Markgröningen lebt seit 20 Jahren mit einem sogenannten Apallischen Syndrom, auch Wachkoma genannt. Die Mitarbeiter*innen sind überzeugt: Herr M. kommuniziert auf seine Weise mit seinem Umfeld. Gemeinsam mit Jana Gräfe, die in Markgröningen als Projektleiterin Unterstützte Kommunikation tätig ist, suchten sie nach Wegen, die Kommunikationsmöglichkeiten mit Herrn M. zu erweitern.

Der Begriff „Unterstützte Kommunikation“ (UK) leitet sich aus dem Englischen „Augmentative and Alternative Communication (AAC)“ ab und bedeutet „ergänzende und ersetzende Kommunikation“. Nicht vorhandene Lautsprache wird durch Alternativen ersetzt. UK umfasst alle Hilfsmittel, die die Kommunikation erleichtern können und zu besserem Verständnis beitragen – auch dessen, was im Umfeld geschieht.

Zu den Hilfsmitteln gehören einfache Symbole, Bilder, Fotos und Piktogramme, wie sie zum Beispiel am Flughafen den Weg zur Toilette weisen. Es gehören aber auch einfache technische Hilfen dazu. Taster, die mit einfachen Worten oder Aussagen besprochen werden, sowie komplexe Sprachausgabegeräte, sogenannte Talker, die mit den Händen oder den Augen bedient werden können.

Für Herrn M. wurden verschiedene Hilfsmittel diskutiert. Zunächst sollte ein körpereigenes Zeichen für Zustimmung angeleitet und geübt werden. Körpereigene Zeichen, wie beispielsweise Nicken, haben den Vorteil, dass sie unabhängig von Hilfsmitteln gezeigt oder ausgeführt werden können. Da Herr M. deutlich mit den Augen reagiert, könnte ein bewusstes Augenschließen „ja“ oder „in Ordnung“ bedeuten.

Auch die visuellen Fähigkeiten von Herr M. sollten eingesetzt werden, um Übergänge im Alltag zu gestalten. So wurde der Transfer zwischen Zimmer und Nasszelle, nun mit Fotos angekündigt. Bei konsequenter Wiederholung, so die Hoffnung, würde Herr M. irgendwann in der Lage sein, mit Blicken aus zwei Fotos auszuwählen und so mitzubestimmen, was er als Nächstes tun möchte.

Auch technische Hilfsmittel gehören zur UK. So wurde Herrn M. anfangs eine größere Taste angeboten, die er mit dem Kopf ansteuern konnte. Auf diese Weise konnte ein Ursache-Wirkung-Zusammenhang eingeübt werden: Das Auslösen der Taste sorgt dafür, dass etwas im direkten Zusammenhang damit geschieht. Dies lässt die betreffende Person Selbstwirksamkeit erfahren.

Heute kann Herr M. unter Einsatz seines linken Daumens einen sogenannten Micro-Light-Taster bedienen. Dieser reagiert auf einen minimalen Druck von 10 Milligramm. Mit Hilfe einer „Magic Arm“ genannten Stange kann der Taster so angebracht werden, dass Herr M. ihn selbstständig ansteuern kann und er nicht verrutscht. So ist Herr M. jetzt in der Lage, selbstständig Licht oder Musik anzuschalten.

Alle Menschen sind von Kommunikation umgeben und werden von Hilfsmitteln der Unterstützten Kommunikation begleitet, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wie wichtig solche Hilfsmittel sind, kann jeder nachvollziehen, der schon einmal in einem Land unterwegs war, dessen Sprache er nicht beherrscht. Menschen mit Einschränkungen in der Kommunikation benötigen die Unterstützung durch Begleitpersonen. Um kommunikative Fähigkeiten (wieder) zu wecken, müssen sich alle im Umfeld auf die verfügbaren Alternativen einstellen und gemeinsam daran arbeiten. Im Fall von Herr M. sind die Mitarbeiter*innen der Habila hoch motiviert, sich dieser Herausforderung in einem zeitintensiven Prozess zu stellen.

Neben den Pflege- und Betreuungskräften, die gemeinsam mit Jana Gräfe die Ideen für die Anwendung der Hilfsmittel im Alltag entwickeln, sind auch die Mitarbeiter*innen aus den Tagesstrukturierenden Bereichen (TSA) einbezogen. So nutzt die behandelnde Ergotherapeutin die Methode der Visualisierung von Übergängen ebenfalls in ihren Therapieeinheiten. Die Mitarbeiter*innen aus der TSA bieten Herr M. die geliehenen Hilfsmittel wiederkehrend in ihren Unterstützungsangeboten an. Eingebettet in dieses Netzwerk verschiedener Professionen hat Herr M. beste Voraussetzungen, seine Kommunikationsmöglichkeiten zu erweitern. Dies eröffnet ihm neue Möglichkeiten für Teilhabe und damit für seine Lebensqualität.

Unterstützte Kommunikation ist von vielen vermeintlich kleinen Faktoren abhängig. Wenn diese aber ineinandergreifen, kann auch ein Mensch mit sehr starken kommunikativen Einschränkungen wieder mehr Selbstwirksamkeit erleben. Herr M. trainiert das Auslösen von Licht oder das Ein- und Ausschalten von Musik. Zudem aktiviert er eine sprechende Taste, welche die Personen aus seinem Umfeld dazu animiert, positive Dinge zu tun oder zu sagen. Herr M. grüßt beispielsweise mit einem einfachen „Hallo, wie geht’s?“, macht Komplimente oder fordert andere dazu auf, witzige Bewegungen oder Bemerkungen zu machen. Das Umfeld reagiert überrascht und stets sehr positiv darauf.

Die mit Hilfe der UK in Gang gesetzte Entwicklung in der Kommunikation mit Herrn M. zeigt, dass es – auch dank moderner Technik – möglich ist, neue Wege zu beschreiten und dadurch Menschen mit Handicaps an Entscheidungen über ihr Leben teilhaben zu lassen und einen Beitrag zur Selbstbestimmung zu leisten. Solche Ergebnisse bedeuten auch für Mitarbeiter*innen Erfolgserlebnisse: „Es ist wirklich beeindruckend, wenn man diese Entwicklung bei einem Klienten nach so vielen Jahren beobachten kann“, sagt Ralph Guttmann, ein langjähriger Mitarbeiter des Wohnbereichs.

| Jana Gräfe

 

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