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6. Dezember 2019
Freiheit macht viel Arbeit
Was ist notwendig, damit Menschen mit einer schweren Behinderung und hohem Unterstützungsbedarf ein selbstbestimmtes Leben führen können? Experten diskutierten darüber bei einer Fachtagung der Habila GmbH in Reutlingen. Und waren sich einig: Es bedarf in der Praxis erheblicher Anstrengungen vieler Partner.
„Die Ziele der Teilhabe gelten natürlich auch für Menschen mit hohem Assistenz- und Unterstützungsbedarf.“ Das sagte KVJS-Verbandsdirektorin Kristin Schwarz in ihrem Grußwort zur Eröffnung einer Fachtagung der Habila GmbH in Rappertshofen. Doch wie dies gelingen kann, welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen und welches die größten Hürden sind, das wurde am Beispiel des Projekts „Stadt.Raum – Wohnen am Gartentor“ intensiv diskutiert.
Schon im Jahr 2013, als das Bundesteilhabegesetz (BTHG) noch in weiter Ferne war, hat die Habila GmbH mit dem Landkreis und der Stadt Reutlingen ein Projekt ins Leben gerufen, das Menschen mit einer schweren Behinderung und zusätzlichem pflegerischen Unterstützungsbedarf neue Möglichkeiten eröffnet hat. Aus einer stationären Versorgung in einer Komplexeinrichtung zogen 12 Personen in eigene Wohnungen mitten in der Stadt. Die Reutlinger Wohnungsgesellschaft vermietete zu diesem Zweck ein neu gebautes Haus an die Habila.
Von Anfang an wurde das Projekt auch wissenschaftlich begleitet. Im Rahmen der Fachtagung präsentierte Prof. Paul-Stefan Roß von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart die Ergebnisse. Kein Klient und keine Klientin hat sich dafür entschieden, das „Stadt.Raum“-Wohnprojekt wieder zu verlassen, um in eine stationäre Betreuung zurückzukehren. Und auch die Mitarbeiter*innen sehen heute viele Vorteile in den neuen Assistenzformen. Ein Bewohner brachte es in einem Video-Einspieler bei der Fachtagung auf den Punkt: „Die Freiheit ist schön, aber es steckt sehr viel Arbeit dahinter.“
Das unterstrich auch der Sozialdezernent des Landkreises Reutlingen, Andreas Bauer: „Das Projekt hat gezeigt, dass auch für diesen Personenkreis Leistungen zur Teilhabe und in der Pflege ambulant erbracht werden können. Mit dem Federstrich des BTHG ist es dabei aber längst nicht getan.“ Das hat auch mit den Kosten zu tun, die insgesamt im „Stadt.Raum“-Projekt deutlich über denen im ambulanten Setting liegen. Um eine Finanzierung im Regelbetrieb zu gewährleisten, wurde das Konzept eines gruppenbezogenen Budgets für zusätzliche pflegerische Leistungen mit den Kostenträgern ausgehandelt. „Das ist innovativ, aber mit Blick auf das Wunsch- und Wahlrecht der Bewohner*innen auch ambivalent“, findet Prof. Paul-Stefan Roß. Er betonte aber auch: „Das Ganze ist kein Kosteneinsparungsmodell.“
„Teilhabe und Wirtschaftlichkeit schließen sich nicht aus, bilden aber ein Spannungsfeld“, ergänzte Frank Stahl, Leiter des KVJS-Dezernats Soziales und mit den laufenden Verhandlungen zur Umsetzung des BTHG im Land bestens vertraut. Daher seien die fortschrittlichen Finanzierungsansätze beim „Stadt.Raum“-Wohnprojekt in Reutlingen interessant, weil die existenzsichernden Leistungen wirtschaftlich bereits von den Fachleistungen getrennt worden seien, wie es das Bundesteilhabegesetz verlange. Gleichwohl sei ein Mehrbedarf in den Bereichen Pflege und Haushaltsführung festgestellt worden – und die Notwendigkeit flexibler Unterstützungsdienstleistungen im Gemeinwesen.
Auch das Erschließen von Ressourcen des Sozialraums und die Einbindung ins Gemeinwesen erweist sich nach Beobachtung von Prof. Roß als „harte Nuss“. So ergebe sich „aus räumlicher Nähe nicht automatische soziale Nähe“. Diese Erfahrung sei allerdings nicht auf Menschen mit Behinderung begrenzt, sagte der Tübinger Wohnsoziologe Dr. Gerd Kuhn. Dies sei Teil der allgemeinen Diskussion um neue Wohnformen, Vielfalt urbaner Gemeinschaften und kooperativer Quartiersentwicklung.
Prof. em. Georg Theunissen weitete den Blick, indem er von Konzepten aus anderen Ländern der Erde berichtete, mit denen selbstständiges Wohnen und soziale Teilhabe angestrebt wird. „International wird das Wohnen unter präventiven Gesichtspunkten gesehen“, fasste er seinen Überblick zusammen. Überall gebe es ein erkennbares Spannungsfeld zwischen Anspruch und Finanzierbarkeit.
Im Format eines „World Café“ tauschten sich die Experten mit den rund 80 Teilnehmer*innen der Fachtagung über die verschiedenen Themen aus. Viele von ihnen kamen aus der Praxis von Trägern von Angeboten für Menschen mit Behinderung und betonten, dass auch die Mitarbeiter*innen als wichtige Akteure frühzeitig an der Entwicklung und Umsetzung neuer Assistenzkonzepte einbezogen werden müssen.
Darauf hatte auch Habila-Geschäftsführer Joachim Kiefer in seiner Begrüßung hingewiesen. „Für unsere Mitarbeiter*innen stellt das Stadt.Raum-Projekt bis heute eine tägliche Herausforderung dar, der sie sich mit neuen Ideen, neuen Strukturen, neuen Arbeitsabläufen und teilweise auch mit einem neuen Selbstverständnis stellen.“ Sein Dank galt aber auch den Klient*innen, die sich auf das Wagnis eingelassen haben. „Das bedeutet auch, gewohnte und manchmal auch bequeme Wege zu verlassen und mehr Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.“
Stephan Gokeler